Freitag, 30. Juni 2023

Das verlorene letzte Morgenweltkapitel


Neulich hat jemand einen sieben Jahre alten Post auf Instagram von mir ausgegraben, in dem ich erzählt habe, dass ich das ursprünglich letzte Kapitel von Band 7.2 gelöscht habe, weil meine Schwester meinte, es sei überflüssig. Sie hatte absolut recht damit, da das aktuelle letzte Kapitel den perfekten Schluss für den Doppelband 7 bildet.

Nun wurde ich gebeten, dieses letzte Kapitel herauszurücken, da es vom erwachenden Fühler handelt und dringend Bedarf an Fühler-Content bestehe 😄. Ich musste erst mal danach suchen, konnte das Kapitel aber schließlich bergen und fand es dann durchaus interessant. Es ist nur kurz und nicht weiter wichtig, aber für alle, die es lesen möchten: Hier ist es!



Kapitel 37: Der Patient


Halfter betrat das Krankenzimmer ohne rücksichtsvolle Ruhe.


„Das ist er?“, fragte er laut.


„Sie sollten Ihre Stimme dämpfen“, sagte der Direktor, „ich mache Fortschritte, aber eine unabdingbare Voraussetzung für seine Genesung ist Ruhe!“


Frost, der auf der anderen Seite des Bettes stand, nickte und warf Halfter einen beschwörenden Blick zu. Halfter gab nach. Er hörte nur auf sehr wenige Menschen, eigentlich auf so gut wie gar keinen, aber er hörte auf Frost.


„Wann wacht er auf?“, fragte Halfter, leiser als zuvor.


„Dass er reagiert, ist schon ein Wunder“, erwiderte der Direktor.


„Das war keine Antwort auf meine Frage!“, murrte Halfter.


Der Direktor blickte Halfter verärgert an.


„Ich bitte Sie, von weiteren Besuchen dieser Art abzusehen, falls Sie Wert darauf legen, dass der Patient zu uns zurückkehrt. Sie verbreiten hier eine Stimmung, die unserem Ziel schadet!“


„So bin ich nun mal“, sagte Halfter. „Ein unbequemer alter Mann.“


Der unbequeme alte Mann trat näher an das Bett heran und betrachtete den Patienten, dessen Augen mit den langen Wimpern geschlossen waren. Er hatte sie seit anderthalb Jahren nicht mehr geöffnet.


„Es stimmt, was man so sagt“, stellte Halfter fest. „Der Junge ist hübsch. Eine wahre Schönheit! Verstehe, dass Repuls ihm verfallen ist.“


„Er ist sensibel“, erklärte der Direktor. „Er wird Ihnen nicht von Nutzen sein, wenn Sie ihm nicht mit Verständnis und Sanftmut begegnen.“


„Höre ich da Besorgnis heraus?“, fragte Halfter. „Hat sich das kalte Herz des Arztes für die zarte Seele seines Schützlings erwärmt?“


„So heilt man. Ich weiß jetzt wieder, warum ich es eines Tages nicht mehr geschafft habe.“


Halfter interessierte es nicht, warum der Direktor vom gefeierten Arzt zum Verbrecher abgestiegen war. Warum er alle diese Dinge getan hatte, für die man ihn zu Recht ins Gefängnis gesteckt hatte. Doch Frost interessierte es. Er wollte wissen, wie der Arzt selbst zum Irren geworden war, ausgestattet mit einem so kalten, rationalen Verstand, dass es niemandem hatte gelingen können, ihn von sich selbst zu heilen.


„Ja?“, fragte Frost. „Was wissen Sie jetzt wieder, Direktor?“


„Wie weh es tut“, antwortete der Direktor. „Ich leide mit diesem Jungen hier, ich gehe seinen Weg, ich fühle, was er fühlt – und das bedeutet bei einem Fühler etwas ganz anderes als bei einem gewöhnlichen Menschen. Er fühlt sich an wie tausend Patienten. Ich habe mich damals in meiner Arbeit verloren und es nicht mehr ausgehalten. Dieser Fall hier bringt mich abermals an den Rand meiner Kräfte.“


„Sie haben die Wahl“, sagte Halfter. „Sie können jederzeit aussteigen.“


Der Direktor beugte sich über seinen Patienten. Er schien zu horchen, er vernahm etwas. Und obwohl Halfter ein Mann war, den so leicht nichts mehr erschrecken konnte, erschrak er doch, als der Fühler plötzlich seine Augen öffnete.


„Sie sind in Sicherheit“, erklärte der Direktor dem Patienten mit einer beruhigenden, geradezu hypnotischen Stimme. „Ich werde Ihnen helfen. Sie werden in Ihr Leben zurückfinden.“


Mit offenen Augen war der Fühler noch hübscher. Aber sie hatten den Mann nicht aufgeweckt, um sich an seinem Anblick zu erfreuen. Halfter brauchte seine Gabe. Und da Halfter kein Dummkopf war und wusste, wann er seinen eigenen Zielen im Weg stand, machte er Frost ein Zeichen, ihm zu folgen und den Patienten der Fürsorge seines Heilers zu überantworten.


„Weißt du, Frost, warum ich jedem anderen Möchtegern-Monster überlegen bin?“, fragte Halfter, als sie das Zimmer verlassen hatten und die Gänge des Sanatoriums durchschritten. „Warum mir Pelohel, Desiderat und Weißer Stern niemals das Wasser reichen können?“


„Ja, Halfter, das weiß ich. Je älter du wirst, desto häufiger wiederholst du dich.“


„Schade, ich hätte es dir so gerne noch einmal erzählt.“


„Nur zu!“, sagte Frost. „Ich werde so tun, als wäre mir die Erkenntnis ganz neu.“


„Der Grund dafür ist“, begann Halfter und dann legte er eine künstliche Pause ein, um die Spannung zu erhöhen, obwohl er wusste, dass diese Spannung ohnehin nicht existierte, „dass man mich mögen kann.“


Frost lachte.


„Ja, das kann man“, sagte er. „Aber man sollte es besser nicht tun. Bei Gott – man sollte es nicht!“


Sie verließen das austrische Sanatorium durch den Hintereingang und traten hinaus in den glitzernden Schnee. Über Nacht war der Winter gekommen. Die Kälte begann. 




Mittwoch, 21. Juni 2023

Ein Gangwolfproblem

 


Zur Feier des Sommeranfangs gibt es mal wieder einen Ausschnitt aus dem zehnten Sumpfloch-Saga-Band - ihr findet ihn am Ende dieses Posts. Zu der Frage, ob ich mit dem Buch vorankomme (die wird mir gerade häufiger gestellt), kann ich nur sagen: „Ja, aber so langsam wie eine Schildkröte.“ 


Ich arbeite außerdem parallel an einem Buch, das nicht in Amuylett spielt. Es handelt von Zügen, bunten Kuchen und einem unheimlichen Kaninchen. Ich wollte schon immer mal ein Buch schreiben, das ein wenig an „Lost“ erinnert (vielleicht kennt jemand von euch diese geniale Serie), aber ich glaube, der Text bewegt sich gerade etwas von dieser Idee weg 😅. 


Mein drittes Arbeitsprojekt ist die Neuauflage von Rabenschwärze. Wie kein anderes Buch versetzt mich Elsas Geschichte an entrückte Orte meiner persönlichen Vergangenheit, als ich allein und von großen Dingen träumend durch die Welt spaziert bin und mein eigenes Leben wie einen Film betrachtet habe. Ich bin immer wieder verzaubert und erschüttert von dieser Geschichte, weswegen sie unbedingt eine Form erhalten soll, mit der ich vollauf zufrieden bin. Auch wenn mir diese Arbeit manchmal uferlos und nicht ganz vernünftig vorkommt 😄.


In diesem Sinne wünsche ich euch unbeschwerte Sommertage, die ihr verrückt, hingebungsvoll oder planlos dahintreibend verbringt und an denen ihr, ohne es zu merken, Erinnerungen für die Ewigkeit strickt 💛.



„Ein Gangwolfproblem“ (Ausschnitt aus dem zehnten Band der Sumpfloch-Saga)


Gerald blickte über das Gebirge aus Bücherstapeln und Papierbergen, das fast sein ganzes Arbeitszimmer einnahm, und fragte sich, ob das mit dem Studium an der Mystoflia-Universität eine gute Idee gewesen war. Was er hier an Wissen zusammengetragen hatte, musste sich in dreißig Tagen abrufbar in seinem Kopf befinden und er hegte berechtigte Zweifel daran, dass die Verwandlung von Buchstaben in Wissen in diesem kurzen Zeitraum gelingen konnte.


‚Das ist so typisch‘, vernahm er die Stimme seines unerträglichen besten Freundes in seinen Gedanken. ‚Warum fängst du nicht einfach an?‘


„Weil ich keine Lust habe?“, erwiderte Gerald mit lauter Stimme. „Es ist Sommer! Da draußen leuchtet eine riesengroße Welt, die wir mühsam gerettet haben, und ich soll hier sitzen und meine Zeit vergeuden. Ich schmeiße es hin. Ich breche ab. Wenn es nicht so blamabel wäre, hätte ich es längst getan.“


Gerald spürte das Unheil kommen. Die vertrackte Verbindung, die zwischen ihm und Hanns bestand, ging so weit, dass er körperlich wahrnehmen konnte, wenn sich der Herrscher von Fortinbrack näherte. Und das tat er – so schnell, dass sich Gerald am liebsten unter dem Schreibtisch verkrochen hätte, um ihm zu entgehen. Warum war der Kerl überhaupt schon wach? Es war erst kurz nach fünf Uhr, die Vögel sangen draußen nach Leibeskräften und der Himmel war gerade mal blassrosa.


„Wir hatten das schon mal!“, rief Hanns, kaum dass er die Tür des Arbeitszimmers aufgerissen hatte und in Geralds melancholischen, frühmorgendlichen Frieden hineingeplatzt war. „Es war dein Traum, an dieser Universität zu studieren. Schon immer. Aber jedes Mal, wenn es ein bisschen Geduld und Durchhaltevermögen braucht, um ein paar lächerliche Aufgaben zu lösen, willst du losrennen und Abenteuer bestehen. Du wolltest nie wie dein Vater werden, der ständig abgehauen ist, weil es ihm ganz schnell zu mühsam oder zu langweilig wurde, aber anscheinend bist du zu feige, um deinen inneren Kampf mit allen Waffen auszufechten.“


„Mit allen Waffen?“, fragte Gerald und legte, um Gelassenheit zu demonstrieren, seine Beine auf den Schreibtisch, mitten auf die Arbeitsliste, die er erstellt hatte. „Das klingt spannend.“


Hanns ließ sich auf das kleine Sofa fallen, das eigentlich nur in der Ecke stand, damit Maria, wenn sie mal zu Hause war, dort sitzen und Gerald vom Lernen ablenken konnte. Der Herrscher von Fortinbrack fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar, das er seit dem Winter hatte wachsen lassen – wahrscheinlich nur, um es sich regelmäßig mit einer dramatischen Geste aus dem Gesicht pflügen zu können.


„Das ist Quatsch“, kommentierte Hanns Geralds Gedanken. „Ich lasse es wachsen, um mich besser tarnen zu können. Wenn mein Gesicht dahinter verschwindet, muss ich mich kaum noch anstrengen.“


„Ach, komm …“


„Allerdings nervt es ziemlich, dass ich ständig für freie Sicht sorgen muss.“


„Ich könnte dir ein paar Schmetterlingshaarspangen von Maria borgen.“


„Lenk nicht von deinem Problem ab.“


„Ich habe kein Problem.“


„Doch, du hast ein gewaltiges Gangwolfproblem. Aber ich bin nicht dein Viego und darum werde ich nicht tatenlos zusehen, wie du zwischen zwei Lebensentwürfen hin-und hertorkelst, ohne dich für einen davon entscheiden zu können.“