Sonntag, 13. Februar 2022

In Küssen ertrinken

 

Von Jean Paul soll das Zitat stammen: „Zehn Küsse werden schneller vergessen als ein Kuss.“ Mal abgesehen davon, dass ich diese Weisheit im Hinblick auf die Anzahl meiner Posts in den letzten drei Monaten ermutigend finde, beschreiben die wenigen Worte sehr gut das Dilemma unserer Zeit. In übertragenem Sinne ertrinken wir in Küssen, weil inzwischen jeder dank Internet seine Stimme erheben und seinen Gefühlen Ausdruck verleihen kann, was gut ist, doch leider gehen die wirklich wichtigen oder auch einzigartig schönen Botschaften im allgemeinen Lärm unter.


Wir werden heutzutage geradewegs totgeküsst, mal zärtlich, mal unterhaltsam, mal penetrant und bisweilen auch übergriffig. Mich lässt das mehr und mehr in Schweigen verfallen, sozusagen als Revolte gegen den Krach, aus dem ich kaum noch Melodien heraushören kann, die mir auf Dauer im Kopf hängen bleiben, mich nachhaltig inspirieren und auf diese Weise mein Leben verändern.


Manchmal kann man die Schönheit eines Dings, eines Werks oder eines Lebewesens nur erfassen, wenn man es auf einem einsamen Platz auf einen Sockel stellt und es das Einzige ist, was den Sinnen Nahrung bietet. Einer solchen Rarität auf einem Sockel widmen wir großzügig Geduld, Zeit und Aufmerksamkeit. Wir nehmen Schwierigkeiten in Kauf, um ihre tiefer liegenden Geheimnisse zu enthüllen.


Ganz anders geht es in der Hektik unserer Tage zu, in den zerstückelten Minuten und gehetzten Sekunden, in denen wir unsere Aufmerksamkeit virtuell schweifen lassen. Ertrinkend in einem Meer aus Eindrücken reagieren wir nur noch auf die schnellen Reize, die markigen Headlines, die spektakulären Bilder, die aggressivsten Schlagworte, den buntesten Spaß, der schnell erschlossen und genauso schnell wieder vergessen ist.


Wir leben im Überfluss, einem mühsam erkämpften und auf ungerechte Weise verteidigten Reichtum, von dem wir dachten, dass er uns glücklicher machen würde. Mittlerweile sieht man den weiten Platz vor lauter Menschen nicht mehr, wir alle stellen uns auf Sockel, von der Sehnsucht getrieben, auf diese eine besondere Weise betrachtet zu werden, die uns Erfüllung bringt, uns leuchten und sagen lässt: Ich lebe und jede Sekunde meines Lebens ist ein Wunder.


Die Wahrheit unserer modernen Zeit ist aber, dass all die unzähligen Stimmen und Küsse dem schnellen Vergessen preisgegeben sind, falls sie überhaupt bemerkt werden. Jeder will Aufmerksamkeit und Liebe, also macht jeder Lärm, manchmal ohne Sinn und Verstand. Dabei glaube ich, dass man nur in dem Maße Aufmerksamkeit empfangen kann, wie man sie auch selbst einsetzt, um sich die Welt zu erschließen. Ganz banal: Wer nichts und niemanden liebt, kann auch mit entgegengebrachter Liebe nichts anfangen, so sehr er sich auch wünscht, sie zu bekommen.


Das Gleiche gilt für die Wunder, die wir uns vom Lärm an virtuellen und echten Orten erhoffen. Wunder brauchen Stille, Ruhe, Demut, Zeit und Arbeit. Jedes unscheinbare Blättchen auf einer Wiese ist ein Wunder, wenn man es mit Hingabe beobachtet und erforscht. Eine solche Hingabe macht das Blättchen und den Betrachter glücklich. Was jedoch gerade passiert, ist nach meinem Empfinden Folgendes: Die Menschheit trampelt laut schreiend über alle Blättchen und Wiesen dieser Welt hinweg. Abgesehen davon, dass die Folgen desaströs sind, frage ich mich: Wozu?


Mein Bedürfnis nach einer Stille, in der ein Kuss noch etwas Besonderes ist und nachwirkt, ist momentan riesengroß. Daher poste ich nur noch selten etwas und bin auch, was das Schreiben von Büchern angeht, von einer Langsamkeit ergriffen worden, die mir manchmal Sorgen macht, von der ich aber glaube, dass sie mich in die richtige Richtung trägt. Zuhören, sich vertiefen, wahrnehmen, schweigen – all das befähigt einen Menschen erst, Wunder zu erleben, statt ihnen bloß nachzujagen.


Meine Ergüsse für heute schließe ich mit einem weiteren Jean Paul-Zitat (falls es wirklich von ihm stammt – ich fand es auf der Spendenbescheinigung einer Tierschutzorganisation): „Gehe nicht, wohin der Weg führen mag, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.“ Dies soll kein Aufruf sein, die unberührte Natur zu zerfurchen, sondern die Hoffnung schüren, dass wir modernen, schuldbeladenen, hilflosen, entfremdeten und liebenswerten Drama-Queen-Heuschrecken-Wohlstandsmenschen eine neue Richtung einschlagen können. Eine, die uns wirklich glücklicher macht. Also falls ihr euch fragt, wo ich die ganze Zeit stecke: Ich bin unterwegs und meine Spur besteht aus Buchstaben …


#stille